Von wegen Rain Man: JP Morgan entdeckt Autisten als Talentquelle
JP Morgan will den Talentpool der Autisten anzapfen. In den kommenden drei Jahren plant die US-Investmentbank „mehrere hundert“ Mitarbeiter mit autistischen Symptomen anzuheuern.
„Etwa 80 bis 90 Prozent der Autisten haben keinen richtigen Job“, sagt James Mahoney, Head of autism at work bei JP Morgan. „Für uns stellt das einen Talentpool dar. Schauen Sie sich Gebiete wie die IT an - dort herrscht ein riesiger Mangel an hochkompetenten Leuten. Wir wissen, dass es sich um einen Sektor handelt, in dem autistische Menschen ausgezeichnete Leistungen erbringen.“
Bislang konzentriert sich JP Morgan bei dem Programm auf die USA. Dort gebe es bereits 58 Mitarbeiter „in diesem Spektrum“, die hauptsächlich in der IT arbeiten. Doch auch in Großbritannien bietet die Bank gemeinsam mit der Universität Bath im kommenden Januar eine Spring School für 30 Studenten und Absolventen in ihrem Büro in Bournemouth an.
Im Großbritannien haben nur 16 Prozent der autistischen Erwachsenen einen Vollzeitjob und 32 Prozent gehen irgendeiner bezahlten Beschäftigung nach, so die National Autistic Society. Mahoney will das Programm nicht als Sozialprojekt verstanden wissen, sondern als eine bislang verpasste Chance.
„Die Leute denken oft an Dustin Hoffman in Rain Main, aber das autistische Spektrum ist weitaus vielfältiger“, betont Mahoney. „Einige konzentrieren sich extrem auf eine einzige Tätigkeit. Sie können daran lange arbeiten, ohne dass Langweile aufkommt, sie haben ein Auge fürs Detail und sind oft in Berufen besonders erfolgreich, die regelgebunden sind und in festen Banden verlaufen.“
Es gibt auch einige herausragende Beispiele für Leute aus dem Spektrum, die in den Finanzdienstleistungen gearbeitet haben. Beim UBS-Trader Tom Hayes, der für die Manipulierung des Referenzzinssatzes Libor zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wurde, wurde das Asperger-Syndrom diagnostiziert. Seine Kollegen nannten ihn „Rain Man“. Auch Trader Michael Burry, der die Finanzkrise vorhersah, leidet unter dem Asperger-Syndrom.
Beim Asperger-Syndrom handelt es sich um eine Form des hochfunktionalen Autismus. Erst neuerdings haben die Banken das Thema „neuronale Diversität“ für sich entdeckt. Dazu gehören auch Dyspraxie (Koordinationsstörungen), Dyslexie (Lese- und Rechtschreibschwächen) oder die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung. Der Einstellungsfocus liegt derzeit aber auf dem Autismus.
Mit ihren Anstrengungen steht JP Morgan nicht allein dar. Die Deutsche Bank hat beispielsweise im vergangenen Jahr Praktika für Absolventen mit Autismus angeboten, die UBS bietet in einem Pilotprogramm Jobs für Autisten in ihrem Complianceteam im amerikanischen Nashville an und auch bei Goldman Sachs gibt es ein spezielles Programm für Autisten.
IT-Personalberater Ray Coyle von Auticon ist auf die Vermittlung von Autisten spezialisiert. Er hält diese Programme für eine „willkommene Entwicklung“. Allerdings handle es sich um bescheidene Anfänge mit nur vier bis fünf Plätzen. Damit würden die Autisten in der Wirtschaft auch künftig unterrepräsentiert bleiben.
Immerhin leidet in Großbritannien einer von hundert unter einer Form des Autismus, in den USA ist es sogar einer unter 68. Die 58 bekannten autistischen Mitarbeiter von JP Morgan fallen bei einer Gesamtzahl von rund 251.500 Beschäftigten kaum ins Gewicht. Allerdings gebe eine gewisse Dunkelziffer, heißt es von JP Morgan.
„Viele Autisten sind seit langer Zeit ohne Anstellung und fallen so aus der Gesamtzahl der Arbeitskräfte heraus, obgleich sie über wertvolle Kompetenzen und Qualifikationen verfügen“, sagt Coyle. „Praktika sind für sie nicht das richtige. Sie sind zwischen 20 und 60 Jahre alt, verfügen oft über eine Promotion und sind seit bis zu 20 Jahren vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen.“
Laut Coyle brillieren diese Menschen oft in Gebieten wie Compliance, Software-Testing, Cyber Security und Datenanalyse. In all diesen Bereichen herrscht derzeit auf den Arbeitsmärkten Ebbe. Die Banken könnten hier also dringend benötigtes Personal finden.
Die Programme würden auch innerhalb der Unternehmen das Bewusstsein für die Thematik schärfen. Dies ermuntere Betroffene sich zu offenbaren und die Unternehmen, ihre Einstellungskriterien anzupassen.
„Bei einem Vorstellungsgespräch handelt es sich eigentlich um nichts anderes als einen Test für soziale Interaktion und Betroffene haben damit wirklich zu kämpfen“, erzählt Coyle. „Wir beurteilen die Leute allein nach ihren Kompetenzen und kognitiven Fähigkeiten.“
JP Morgan versucht auch die Führungskräfte im Umgang mit autistischen Mitarbeitern zu schulen.
„Diese Form der Interaktion zu verstehen, stellt auch für Nichtautisten einen großen Lernprozess dar“, sagt Mahoney. „Oft geben die Leute Feedback in Form von Metaphern, Humor oder Sarkasmus. Doch Autisten verstehen diese Hinweise regelmäßig nicht. Das Feedback muss klar und deutlich ausfallen. Wir müssen unsere Manager darin trainieren, wie sie aus autistischen Mitarbeitern das meiste herausholen.“