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Bonus-Tag bei Goldman Sachs und das eigene Ego

Für den Rest der Welt ist heute ein ganz normaler Arbeitstag im Januar. An der Wall Street ist der heutige Tag jedoch alles andere als normal. Heute ist „Comp Day“ – der Tag, an dem die jährlichen Boni bekannt gegeben werden.

8:30 Uhr. Matt, der ranghöchste Trader im Team, erhält den ersten Anruf. Die Anrufer-ID auf dem Telefon-Display verrät: Konferenzraum 5. Von Konferenzraum 5 ruft nie jemand an, außer am „Comp Day“.

An den meisten Tagen gehen die jüngeren Teammitglieder ans Telefon. Am „Comp Day“ gehen alle selber dran, vor allem, wenn auf dem Display Konferenzraum 5 steht.

Ein kollektives Aufatmen geht durch das Team und Matt blickt auf sein Telefon. „Hallo“, nuschelt Matt in sein Headset. „Ja, ich bin auf dem Weg.“ Matt, der mit seiner fünfköpfigen Familie viermal im Jahr per Business Class nach Hawaii fliegt, steht von seinem Platz auf und wirkt wie ein Drittklässler, der gerade ins Büro des Schulleiters beordert wurde.

Als Matt in Konferenzraum 5 verschwindet, fällt unser Blick auf Nick, den Partner, der das Team leitet, und der hinter einem Stapel Papier sitzt. Alle tun so, als würden sie arbeiten, was aber niemand tut – alle sind in Gedanken beim Konferenzraum 5.

Es vergehen drei Minuten, die sich eher wie 13 anfühlen, und Matt kommt wieder – mit einem Gesichtsausdruck, der verrät, dass er mit einer Null mehr gerechnet hatte.

Eine weitere Minute des Schweigens. Das Telefon klingelt. Auf dem Display: Konferenzraum 5. Diesmal ist Taylor dran.

So geht es fast den ganzen Vormittag weiter. Irgendwann bin ich an der Reihe.

Mein Herz schlägt wie wild, als ich aufs Display schaue. „Ich bin auf dem Weg“, sage ich in demselben roboterhaften Tonfall wie alle vorher. Ich spüre, wie die Augen meiner Kollegen meinen Körper durchbohren. Mir ist das Herz in die Hose gesackt, aber gleichzeitig rast es wie vor dem ersten Kuss.

Nick begrüßt mich mit einem Nicken und einem kurzen Lächeln. „Setz dich.“ Ich weiß, dass ich keine Schmeicheleien zu erwarten habe.

Er beginnt mit dem üblichen qualitativen Geplänkel über das Abschneiden des Unternehmens. Ich bekomme nicht mit, was er sagt. Mein Gehirn scheint den qualitativen Teil des Gesprächs blockiert zu haben.

Und dann kommt der Moment der Wahrheit. Der quantitative Teil. „Ihr P-A-T-C ist...“

P-A-T-C steht für „Per Annum Total Compensation”. Es ist die Summe aus Grundgehalt und Bonus und wird gemeinhin als „Deine Zahl“ („Your number“) bezeichnet.

Nachdem ich meine Zahl genannt bekomme, teilt Nick mir mit, welcher Teil des Bonus in bar und wie viel in Unternehmensanteilen ausbezahlt wird. Keine dieser Informationen wird registriert. Mein Gehirn spielt das, was über die Zahl gesagt wurde, immer wieder von Neuem ab.

Ich habe in diesem Moment keinen Zugang zu meinen Emotionen. Ich weiß nur, dass ich sowohl höflich als auch enttäuscht wirken muss. Ich muss ihn wissen lassen, dass ich erwachsen genug bin, um mich anständig zu verhalten, aber dass ich von der Zahl nicht gerade beeindruckt bin. Zuzugeben, dass man zufrieden ist oder sich gar aufrichtig dankbar zu zeigen, wäre gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, dass man zu viel bekommen hat. Sich unzufrieden zu zeigen, ist eine Strategie, um im nächsten Jahr mehr Geld zu bekommen.

Ich nicke ein letztes Mal und gehe zurück auf den Trading Floor. Die Augen der Legionen von Trader, Sales-Leute und Strategists  durchbohren mich erneut. Als ich an meinen Schreibtisch zurückkehre, kommt bereits der nächste Anruf aus Konferenzraum 5.

Ich weiß nicht so recht, wie ich mich den Rest des Nachmittags über verhalten soll. Einige sind kurz davor, zu kündigen. Andere sinnieren darüber, in welcher Farbe sie ihren Ferrari bestellen. Ich weiß nicht, wer hier wer ist. Ich beschließe, bei mir selbst zu bleiben. Es ist sowieso alles irgendwie verschwommen – alles außer meiner Zahl.

Heute beginnt die Beziehung zu meiner Zahl, die mich das ganze Jahr lang nicht loslassen wird. Es ist eine sehr innige Beziehung, denn die Zahl habe ich immer im Kopf. Sie wird mariniert. Sie schmort. Sie verschlingt mich. Und sie wird zu mir selbst. Ich beginne alles zu glauben, was sie repräsentiert.

So wie Johnny Rivers in „Secret Agent Man“ schreibt: Sie haben dir eine Zahl gegeben und deinen Namen weggenommen („They've given you a number and taken away your name“).

Aber hier geht es nicht um sie. Hier geht es um mich. Es geht darum, wie ich mein Selbstwertgefühl einer Zahl unterwerfe. Eine einzige Zahl an einem einzigen Tag, die mir von einer einzigen Person mitgeteilt wurde.

In jedem der elf Jahre, die ich bei Goldman Sachs war, habe ich meinem Chef zwei Monate vor dem „Comp Day“ eine Auflistung meiner Leistungen geschickt, um ihm Munition für einen höheren Bonus zu liefern. Als mir meine Zahl dann gesagt wurde, glich der interne Algorithmus meines Egos sie mit meiner Liste ab. Und: Die Zahl war immer zu niedrig.

Nach außen hin tat ich so, als ob ich veräppelt worden wäre. „Es ist so ungerecht, dass die Sales-Leute dieses Jahr mehr bekommen haben!“

Das Ego hat Ansprüche. Es liebt es, das Konzept der Fairness für seine Zwecke zu nutzen. Besonders am „Comp Day“.

In mir drin sah es anders aus – da machten mich die inneren Stimmen zunichte: „Du bist nicht quantitativ genug. Du hast es gar nicht verdient, zum MD befördert zu werden.

Die innere Stimme ist der Anwalt des Egos. Sie wusste immer schon, dass ich ein Hochstapler bin – und jetzt wurde mir der Beweis dafür ins Gesicht geschleudert. Die Scham und das Gefühl, nicht zu genügen, wurden extrem unangenehm.

Um dieses nagende Gefühl kurzzeitig auszublenden, reagierte ich mit Teilnahmslosigkeit („ich wollte eigentlich nie Teil dieses von Habgier getriebenen Berufsstands werden“) und mit wütenden Vorwürfen („die gierigen Arschlöcher haben alles für sich behalten!“). Diese Reaktionen gaben vermittelten mir den Schein, Stärke und Kontrolle zu haben, aber sie hinterließen auch Kollateralschäden in meinem Leben. Im Job legte ich mich nicht mehr ganz so sehr ins Zeug, griff anderen nicht mehr so gern unter die Arme und versuchte das auszugleichen, indem ich auf subtile Art und Weise zeigte, wie wertvoll ich war. In meinem Privatleben war ich schlecht gelaunt, abwesend und suchte Bestätigung durch Name-Dropping oder Humble-Bragging.

Dieser ganze Kreislauf ist problematisch und all das liegt nur daran, dass ich meinen Selbstwert einer Zahl unterworfen hatte.

Beim „Comp Day“ geht es nicht ums Geld. Es geht um die Bedeutung, die unsere zerbrechlichen Egos dem Geld zuschreiben.

Und auch wenn man seinen Bonus nicht auf so dramatische Art und Weise wie ein Investmentbanker bekommt, welchen Zahlen erlauben wir, uns zu definieren? Ist es die Unternehmensbewertung, der Preis des Bitcoins, der Stand des Aktienportfolios oder der eigene Stundensatz?

Wenn wir unseren Wert an etwas Externes knüpfen, wird es nie genug sein. Es wird nie ein echter Wert sein.

Und jetzt in die Gegenwart…

Ist die Neigung, mich über eine Zahl zu definieren, verschwunden, jetzt, wo ich nicht mehr bei einer Investmentbank arbeite? Leider nein.

Als vierköpfiges Team bei „Upbuild“ haben wir versucht, unseren Wert zu entkoppeln von dem was wir verdienen – unser Gehalt knüpfen wir an das, was das Team verdient hat und nicht an individuelle Beiträge. Das ändert die Stimmung, heißt aber nicht, dass die Verbindung zwischen dem eigenen Selbstwert und dem Verdienst sich aufgelöst hätte.

Sogar mit diesem gleichheitsorientierteren System und auch wenn ich privat und beruflich mit meinen Kunden viel daran arbeite, Egos auszugraben, bleibt es schwierig. Meine Konditionierung sitzt tief. Ich fühle mich unsicher, was meinen eigenen Wert angeht und frage mich, ob ich genug tue, um meinen Anteil zu verdienen. Und ich empfinde Unsicherheit, weil ich mich frage, ob ich jetzt weniger wert bin – schließlich ist „meine Zahl“ deutlich niedriger als einst.

Aber nur weil etwas früher einmal so war, heißt das nicht, dass es für immer so bleiben wird. Indem ich mir mein zerbrechliches Ego bewusst mache, mache ich mich daran, die Verknüpfung zwischen „meiner Zahl“ und meinem Wert zu entschlüsseln.

Anders als was mir mein Ego einreden will, muss Wert nicht verdient, nicht unter Beweis gestellt werden.

Wir sind nicht die Zahlen. Die Zahlen sind kein Indikator für unseren wahren Wert. Wir wissen das, schließlich bleibt die Unsicherheit darüber, „nicht gut genug“ zu sein bestehen, auch wenn die Zahl gut genug ist. Ein System, das mit Zahlen operiert, um uns unseren Wert zu vermitteln, ist fadenscheinig. Es hält dem Lauf der Zeit nicht stand. Wir müssen etwas finden, das langlebiger und näher am Kern dessen ist, was wir sind.

Wir können uns die Frage stellen: „Wer wäre ich, wenn ich mein Geld, meinen Job-Titel und meinen Status verlieren würde?“

Denken Sie darüber nach. Wer wären Sie dann?

Diese Frage hat mich immer umgetrieben, weil ich auf sie nie eine überzeugende Antwort hatte. Außerdem war ich so süchtig danach, zu gewinnen, dass ich weder die Zeit noch das Verlangen hatte, ehrlich über diese Frage nachzudenken.

Erst in letzter Zeit, als ich damit begonnen habe, als Coach zu arbeiten und mir mein Ego stärker bewusst gemacht habe, merke ich, dass es bestimmte Charaktereigenschaften gibt, die tiefer liegen als meine Ego-Identifikationen. Diese Eigenschaften – Demut, Dankbarkeit und Empathie – sind für mich nicht leicht zugänglich, aber in guten Momenten, wenn ich mich nicht ganz so sehr um meinen Wert sorge, scheinen sie zum Vorschein zu kommen, und zwar mit einer Art Leichtigkeit. Es ist schwer in Worte zu fassen, aber sie fühlen sich natürlich und richtig an. Ich glaube, dass dies meine Kernqualitäten sind, die meinen wahren Wert ausmachen.

Es ist nicht so, dass andere mich als bescheiden, dankbar und empathisch beschreiben würden. Das ist sogar eher selten der Fall. Der Grund ist, dass meine Angst vor einem Mangel an Wert mich daran hindert, meinen wahren Wert zu zeigen.

Ich stelle auch fest, dass die innere Arbeit, die es braucht, um diese Kernqualitäten zu erschließen und zu leben, Zeit, Beständigkeit und Mühe erfordert. Elf Jahre auf dem Trading Floor bei Goldman Sachs lassen sich nicht so einfach abstreifen. Aber nach meiner bisherigen Erfahrung kann ich nur dann meinem wahren Wert näherkommen und der sein, der ich wirklich bin, wenn ich mich wirklich bemühe, mich unabhängig zu machen von äußeren Wert-Maßstäben.

Michael Sloyer ist Coach für Leadership Development bei „Upbuild“ und ehemaliger Managing Director bei Goldman Sachs. Mehr über seine Arbeit unter www.upbuild.com.

Download our full salary and bonus survey here. 

Contact: sbutcher@efinancialcareers.com in the first instance. Whatsapp/Signal/Telegram also available (Telegram: @SarahButcher)

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AUTORSarah Butcher Globale Redaktionsleiterin mit Sitz

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